Jan Wohlgemuth
Grammatische Kategorien und ihre Ausprägungen im Tok Pisin von Papua-Neuguinea
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Diese Arbeit ist in dem Zusammenhang zweier Proseminare zu sehen, die folgende Titel hatten: "Von der Notwendigkeit grammatischer Kategorien" und "Sprachkontakt und Sprachentwicklung am Beispiel der Englischen Sprachgeschichte", beide Seminare fanden im Sommersemester 1997 unter der Leitung von Hartwig Franke M.A. statt.
Das erstgenannte Seminar hatte zum Gegenstand, die verschiedenen grammatischen Kategorien und deren Vorhandensein bzw. Ausprägungen in verschiedenen Sprachen aller Familien zu untersuchen. Dabei sollte analysiert werden, inwiefern eine sprachliche Realisierung verschiedener Kategorien überhaupt notwendig ist, um eine zweifelsfreie, reibungslose und gleichzeitig ökonomische Kommunikation zu gewährleisten. Das andere Seminar war der erste Teil einer Reihe, die sich mit der englischen Sprachgeschichte befaßte, in dem es konkret um die Besonderheiten der Entwicklung einer Sprache im Kontakt mit anderen Sprachen ging.
Ich möchte in dieser Arbeit die Fragestellungen und Ergebnisse beider Lehrveranstaltungen verwerten, um anhand der Sprache Tok Pisin zu untersuchen, ob grammatische Kategorien aus den Spendersprachen übernommen wurden, welche obligatorisch und welche fakultativ ausgedrückt werden, mit welchen Mitteln dies geschieht, und ob in der Entstehung des Tok Pisin die Prinzipien der Sprachökonomie gegriffen haben. Dazu erscheint es mir unerläßlich, auf die Entstehungsgeschichte von Tok Pisin einzugehen, und dabei ausgewählte grammatische Eigenschaften dieser Sprache in den Grammatiken der sogenannten parent languages zu identifizieren.
Darüber hinaus möchte ich das Vorurteil ausräumen, Tok Pisin oder jedes beliebige andere Pidgin oder Kreol sei nichts weiter als eine korrumpierte und stark vereinfachte Varietät "unserer” Hochsprachen.
In dieser Arbeit soll die Sprachbezeichnung Tok Pisin verwendet werden. Zum einen ist sie das Endonym, zum anderen verhindert dies einige Mißverständnisse. Die landläufigen Bezeichnungen Pidgin English, Neuguinea-Pidgin oder Melanesian Pidgin (in allen möglichen Übersetzungen) erklären Tok Pisin zu einer Pidginsprache. Dies ist aus sprachhistorischer Sicht vielleicht noch akzeptabel, da Tok Pisin ursprünglich ein Arbeiterpidgin in Neuguinea und Nordaustralien war. Inzwischen hat es sich aber aus diesem Status heraus zu einem Kreol weiterentwickelt, das weit mehr als nur eine Verkehrssprache ist. (Zur Terminologie s. Kap. 2.4).
Zudem ist an der Formulierung Pidgin English problematisch, daß man nur schwerlich sagen kann, es handle sich um ein Pidgin des Englischen, da hierdurch zum einen impliziert wird, Pidgins seien keine selbständigen Sprachen (vgl. auch hierzu Kap. 2.4), zum anderen die Tatsache vernachlässigt wird, daß außer dem Englischen noch eine Vielzahl weiterer Sprachen an der Entstehung von Tok Pisin beteiligt war.
Das Exonym Melanesian Pidgin impliziert eine Verbreitung im gesamten melanesischen Sprachraum, und darüber hinaus, Tok Pisin sei die einzige Pidginsprache der Region. Beides ist falsch. Nach VERHAAR sollte Melanesian Pidgin vielmehr als Oberbegriff der Pidgin- und Kreolsprachen der Region verwendet werden, z.B. Bislama auf Vanuatu, Pijin der Salomonen, etc. (Vgl. VERHAAR, S. 1f).
Tok Pisin ist, wie der Name erkennen läßt, das Produkt einer Pidginisierung. Es entstand in den Plantagen Queenslands und Samoas, in denen die englischen Kolonialherren Hunderttausende Arbeiter aus Neuguinea und den benachbarten Inseln einsetzten. Die Arbeiter und Aufseher benutzten ein vereinfachtes und angepaßtes Englisch als Verkehrssprache, um die Vielfalt von mehreren hundert Sprachen der Region zu überbrücken.
Bereits in vorkolonialer Zeit müssen sich Kontaktsprachen herausgebildet haben, von denen einige sich bis heute erhalten haben, wie Hiri Motu (vgl. Kap. 2.3). Neben der Pidginisierung innerhalb der Papuasprachen sind selbstverständlich auch Beziehungen zu benachbarten Sprachen und Sprachfamilien vorhanden, wie z.B. zu den Australsprachen und zu den Malaiischen Sprachen. Inwiefern gelegentliche Parallelen auf Sprachkontakt oder eher auf genetische Zusammengehörigkeit schließen lassen, wird in der Literatur kontrovers diskutiert, spielt aber für die Entstehung von Tok Pisin keine Rolle.
(Hingewiesen sei hier nur auf NILE/CLERK, S. 53-68 und auf Wurm, der auf S. 255ff die Diskussion reflektiert.)
Seit dem 16 Jahrhundert ist die Region den Einflüssen aus den europäischen Sprachen ausgesetzt, was die Entstehung von Pidgins in noch größerem Maße vorantrieb. Die Völker Neuguineas blieben jedoch bis zur Annexion durch Großbritannien und das Deutsche Reich 1884 von der Kolonialisierung verschont, so daß die Werdung von Tok Pisin mit erst diesem Datum einsetzt
.Neben dem unleugbaren englischen Superstrat sind auch Einflüsse des Deutschen auf das Tok Pisin deutlich zu erkennen, auch wenn die Zeit der dt. Einflußnahme nur relativ kurz war (1884-1914), wenn man von einigen immer noch bestehenden Einrichtungen der Mission einmal absieht, die nur lokale Bedeutung haben.
Sprachliche Kontakte gab es weiterhin mit dem Malaiischen in Form der Bahasa Indonesia als Staatssprache, sowie bodenständiger malaiischer Regionalsprachen in Irian Jaya und den umgebenden Inseln. Das Portugiesische und das Niederländische, beides wichtige Kolonialsprachen der Region, haben keinerlei Reflexe im Tok Pisin hinterlassen.
Über den Status der Sprache Tok Pisin gibt es sehr stark divergierende Angaben in der Literatur. Sowohl der "FISCHER Weltalmanach” als auch "HARENBERGs Länderlexikon” nehmen als Amtssprache Englisch an und führen Pidgin, bzw. melanesisches Pidgin als Umgangssprache neben "rd. 740 Papuasprachen” (FISCHER, S. 563; HARENBERG S. 331) auf. In "PHILIP's World Handbook” werden Motu und Englisch als offizielle Sprachen genannt (PHILIP's, S. 170). Für BLANZ/WENDT ist Tok Pisin eine Art Kreol, das in verschiedene "deutliche regionale Eigenheiten” zerfällt. (BLANZ/WENDT, S. 112)
Nach VERHAAR ist Tok Pisin heutzutage eine der zwei offiziellen Staatssprachen von Papua Neuguinea, und im gesamten Staatsgebiet, wenn auch in entlegenen Regionen nur sehr vereinzelt, verbreitet (vgl. VERHAAR, S. 2f). Die zweite Staatssprache, Hiri Motu, ist vor allem in den südlichen Landesteilen verbreitet, und ein Pidgin (vgl. FOLEY, S. 32f). Beide Sprachen wurden mit der Unabhängigkeit 1975 als Staatssprachen angenommen. Weitgehende Einigkeit herrscht in der von mir durchgesehenen Literatur darüber, daß weiterhin Englisch als Amts- und Schulsprache gebräuchlich ist, und Tok Pisin "als landesweite Lingua franca fungiert” (SEIB, S. 3).
Zur Sprachenvielfalt und den sprachlich-kulturellen Zusammenhängen erläutern NILE/CLERK:
”The Pacific islands, particularly those of Melanesia, are still rich in languages. Sharing language is an important part of a sense of common identity [...]. Nevertheless, throughout the region local languages and dialects are tending to become eroded or replaced by those that have wider currency. The need for communication within the linguistically diverse countries of Melanesia has led to the adoption of pidgins. [...] Though containing differences, they are sufficiently alike to have contributed to the shared sense of Melanesian identity [...]. Elsewhere, despite their colonial connotations, English or French are used as the lingua franca in education and for official communications.” (NILE/CLERK, S. 207)
Über die Anzahl der Sprecher kann man nur schwer eine Aussage treffen. In der o.a. Literatur finden sich keine konkreten Zahlen, jedoch ist nicht davon auszugehen, daß mehr als 50% der rund 4 Millionen Einwohner Tok Pisin beherrschen.
Bevor wir nun der Frage nachgehen, welchen Status Tok Pisin hat, sollten wir zunächst die Begriffe Pidgin und Kreol klären, da sie sehr unterschiedlich ausgelegt werden können. In dieser Arbeit sollen die Definitionen HOLMs angewandt werden, die er in der Einführung zu seinem Werk "Pidgins and Creoles” gibt, wobei ich diejenigen Teile, die er in späteren Kapiteln revidiert, hier der Einfachheit halber weglasse.
"A pidgin is a reduced language that results from extended contact between groups of people with no language in common; it evolves when they need some means of verbal communication [...] but no group learns the native language of any other group for social reasons [...]. They co-operate with the other groups to create a make-shift language to serve their needs, simplifying by dropping unnecessary complications such as inflections [...] and reducing the number of different words they use, but compensating by extending their meanings or using circumlocutions. By definition, the resulting pidgin is restricted to a very little domain, such as trade, and it is no one's native language.” (HOLM, S. 4f)
In Einklang mit MÜHLHÄUSLER weist er jedoch darauf hin, daß das Pidgin sich von einem einfacheren zu einem komplexeren System weiterentwickelt, um anspruchsvolleren kommunikativen Anforderungen zu genügen. (Vgl. HOLM S 5; vgl. MÜHLHÄUSLER S. 5).
Hiervon grenzt HOLM jedoch den Jargon klar ab, der in der Regel nicht gruppengebunden sondern personengebunden ist, und der keine festen Regeln hat. (vgl. ebd.)"A creole has a jargon or pidgin in its ancestry; it is spoken by an entire speech community, often one whose ancestors were displaced geographically so that their ties with their original language and sociocultural identity were partly broken.” (Vgl. HOLM, S. 6)
Wichtige Unterschiede zum Pidgin sind dabei, daß ein Kreol eine Muttersprache ist, daß es phonologischen Prozessen (wie Assimilation) unterliegt, und daß sein Wortschatz alle Bereiche des Lebens abdeckt, nicht bloß einen Teilbereich.
Diese Definitionen rühren allesamt nicht an der Tatsache, daß es sich hierbei um eigenständige, natürliche Sprachen handelt, und also nicht um Babytalk, Kunstsprachen oder Dialekte bzw. verkommene Varianten von Hochsprachen.
Wie ich im folgenden Kapitel anhand einiger grammatischer Phänomene zeigen möchte, ist Tok Pisin viel mehr als ein vereinfachtes Englisch, das mit ein paar Papua-Vokabeln durchsetzt ist: es ist eine selbständige und voll funktionierende Sprache, die teilweise sehr komplex ist, auch wenn ihr manche Kategorien, die wir aus unseren europäischen Sprachen kennen, "fehlen”.